»Wenn Eltern um die Sicherheit und Zukunft jüdischer Kinder in Europa bangen, ist das kein gutes Zeichen – weder für Juden noch für Europa.«

Günther Jikeli im Gespräch über die gegenwärtigen antisemitischen Ausschreitungen in Europa

Anna Blume / HUch! / Juedische.at / Hagalil.com

Juli 2014: Im österreichischen Bischofshofen muss ein Freundschaftsspiel zwischen dem französischen Erstligisten OSC Lille und dem israelischen Fußballverein Maccabi Haifa abgebrochen werden, nachdem ca. 20 junge Männer mit palästinensischen und türkischen Flaggen gewaltsam das Spielfeld stürmen. In Essen nimmt die Polizei zunächst 14 und eine Woche später nochmals vier Personen vorläufig fest, weil diese verdächtigt werden einen Anschlag auf die Alte Synagoge geplant zu haben. In Toulouse, Wuppertal und anderen Städten werden Brandanschläge auf jüdische Einrichtungen verübt, in Frankfurt am Main wird Mitgliedern der jüdischen Gemeinde mit Mord gedroht und in Gateshead im Nordosten Englands greifen vier Studenten einen Rabbi an. In Manchester wirft eine Gruppe junger Männer im jüdischen Viertel Eier und Dosen aus einem fahrenden Auto und schreit »Heil Hitler«. Auf pro-palästinensischen Demonstrationen in Paris und Berlin wird »Tod den Juden« und »Jude, Jude, feiges Schwein« offen skandiert und immer häufiger kommt es aus solchen Demonstrationen heraus zu gewaltsamen Übergriffen gegen Juden oder Menschen, die für solche gehalten werden.

Fast immer haben die Täter einen muslimischen Background, fast immer sind es junge Männer zwischen 15 und 35 Jahren. Welche Gemeinsamkeiten kannst Du bei diesen antisemitischen Ausschreitungen trotz der unterschiedlichen Migrationsgeschichten, ethnischen Hintergründe und landesspezifischen Einwanderungspolitiken in Deutschland, Österreich, Frankreich und Großbritannien ausmachen?

G.J.: Die Welle von offen antisemitischen Plakaten, Skandierungen und vereinzelt sogar tätlichen Angriffen gegen Juden, Synagogen und »jüdische Geschäfte« im Zuge der pro-Palästina Proteste im Sommer 2014 in vielen Städten Europas ist in dieser Dimension neu. Nicht ganz so neu, aber dennoch erschreckend ist, dass die »pro-Palästina« Demonstrationen sich meist als pro-Hamas und anti-Israel Demos entpuppten. Anmelder waren oft palästinensische Vereinigungen, islamistische Gruppierungen und Die Linke. Offener Hass gegen Juden wurde in der Tat häufig von Menschen mit muslimischem und insbesondere arabischem Hintergrund geäußert. »Allah Akbar!« wurde auf vielen dieser Demonstrationen zum Schlachtruf gegen Israel und gegen »die Juden«. Man sollte sich fragen, warum? Wer genau sind die Täter und warum machen sie das?
Das alte Bild von Juden als Kindermördern ist wirkmächtig und wirkt hier emotionalisierend. Damit der heutige Krieg zwischen Israel und der Hamas aber derart interpretiert wird, muss bereits ein entsprechendes Interpretationsschema, d.h. ein antisemitisches Weltbild vorhanden sein, auch wenn die einseitige Berichterstattung zum Nahostkonflikt diese Interpretation erleichtert oder sogar nahelegt. Die israelische Armee ist nicht gleichzusetzen mit »den Juden« und es ist nicht die israelische Armee, die vorsätzlich auf Zivilisten schießt, sondern die Hamas und das aus Wohngebieten, Krankenhäusern, Schulen und Moscheen. Ein antisemitisches Weltbild ist also bei vielen der Demo-Teilnehmer vorhanden. Einige sind beeinflusst von Islamisten, wie man an Fahnen (inkl. Hamas-Fahnen), den teilnehmenden Organisationen und »Allah Akbar« -Rufen unschwer erkennen kann. Dass es unter Islamisten viele Antisemiten gibt bzw. dass islamistische und antisemitische Ideologien eng zusammenhängen, sollte nicht wundern und ist empirisch belegt. Islamisten haben zudem noch ein starkes »Argument«, dass sie ungeniert nutzen: Bestimmte Koranverse rufen zur Feindschaft gegen Juden (und Christen sowie »Ungläubige«) auf. Bei einer wortwörtlichen Koranauslegung, die nach wie vor weit verbreitet ist, gilt das als Beweis, dass Gott die Juden verdammt. Der Erfolg und Einfluss der Islamisten auch in Europa ist sicherlich einer der Gründe, weshalb in Umfragen Menschen, die sich als Muslime definieren, wesentlich häufiger antisemitischen Statements zustimmen als nicht-Muslime. Was natürlich nicht heisst, dass alle Muslime Antisemiten sind.

Welche Unterschiede sieht Du, beispielsweise hinsichtlich der Qualität der Ausschreitungen, der jeweiligen Reaktionen von staatlicher und zivilgesellschaftlicher, ja vielleicht sogar muslimischer Seite?

G.J.: Zu pogromartigen Stimmungen wie dies vereinzelt in Frankreich der Fall war, ist es in der Bundesrepublik zum Glück nicht gekommen. Die jüngsten Ereignisse haben aber dazu geführt, dass Pogrome auch in anderen Ländern Europas wieder vorstellbar werden. Der offene Antisemitismus, wie er sich im Juli bei den Demonstrationen oder gar bei den dschihadistischen Anschlägen in Brüssel im Mai 2014 im jüdischen Museum und in Toulouse im März 2012 in der jüdischen Schule gezeigt hat, wird zum Glück klar von Seiten der Politik, in den Medien und auch von einigen Repräsentanten muslimischer Communities verurteilt. Damit die antisemitische verbale und physische Gewalt nicht weiter ansteigt, muss jetzt allerdings mehr getan werden. Sicherheitsmaßnahmen müssen verbessert werden, Antisemitismus in jeglicher Form einschließlich des Antizionismus muss geächtet werden und Aufklärung und Bildung müssen so ausgerichtet werden, dass sie antisemitischen Welterklärungen vorbeugen. Außerdem müssen die Täter und der Zusammenhang zum Islamismus klar benannt werden. Das jedoch scheint Tabuthema zu sein. Der Psychoanalytiker Daniel Sibony spricht hier von einem narzisstischen Schuldgefühl als Ursache. In der »Postmoderne« und im »Postkolonialismus« sozialisierte Menschen meinen Schuld zu sein am heutigen Zustand muslimischer Gesellschaften und damit auch verantwortlich für die Lösung der dortigen Probleme. Diese narzisstische Überheblichkeit in westlichen Gesellschaften erschwert, eben weil sie laut Sibony Kritik am Islam zum Tabu erklärt, eine Auseinandersetzung von Muslimen mit fundamentalen Problemen muslimisch geprägter Gesellschaften, beispielsweise wie mit problematischen Textstellen in der heutigen Gesellschaft umgegangen werden soll, die als heilig gelten.

Nun sind muslimische Jungendliche und junge Erwachsene nicht die Einzigen, die sich antisemitisch äußern und antisemitische Straftaten begehen. Zugleich jedoch werden überdurchschnittliche viele und oft auch besonders gewalttätige Übergriffe von diesen begangen und dies auch nicht erst seit ein paar Wochen. Man denke beispielsweise an die brutale Folter und den Mord an Ilan Halimi in Paris 2006, an die Angriffe auf eine jüdische Tanzgruppe bei einem Hannoverschen Stadtfest 2010 oder die Anschlagsserie in Midi-Pyrénées 2012, bei der drei kleine Kinder und ein Lehrer einer jüdischen Schule erschossen wurden. Was ist das Spezifische am muslimischen Antisemitismus?

G.J.: Man muss hier unterscheiden zwischen Dschihadisten, die aus einer islamistisch-antisemitischen Motivation heraus Terroranschläge planen und ausführen und gewaltbereiten Jugendlichen, die von dieser Ideologie angezogen, beeinflusst und angestachelt sich im Mob oder auch allein auf der Straße stark genug fühlen, ihre Ressentiments gegen Juden auszuleben. Wie Du sagst, sind es längst nicht nur Menschen mit muslimischem Hintergrund, die sich antisemitisch äußern. Nach wie vor geht antisemitische Gewalt in Deutschland von Nazis und anderen Rechtsextremen, aber auch von Linken aus. Verbale Gewalt kommt aus allen Schichten und politischen Lagern. Die Ursachen sind vielfältig, bei Muslimen wie bei nicht-Muslimen. Dazu gehören Projektionen, vereinfachende Welterklärungen, autoritäre Strukturen und durch Kultur und Sprache tradierte Stereotype. Das Spezielle, das beim muslimischen Antisemitismus hinzukommt, ist der Bezug auf »den Islam« – identitär, theologisch, mit Fragmenten heiliger Schriften und auf die Geschichte des Islams bezogen. Am ersichtlichsten ist die Begründung von Judenfeindschaft mit bestimmten Koranstellen oder den im Islam ebenfalls heiligen Hadithen, Erzählungen über das Leben Mohammeds. In der Geschichte, angefangen mit den Eroberungen Mohammeds, gab es zahlreiche Beispiele der Unterdrückung und des Massenmords an Juden. Eine systematische Unterdrückung von Juden in muslimischen Ländern fand über Jahrhunderte statt – auch wenn Pogrome wesentlich seltener waren als im christlichen Mittelalter. Juden (und Christen) wurden als Menschen zweiter Klasse, behandelt d.h. mit anderen Rechten und Pflichten versehen als Muslime. Dies alles hat sich bei einigen dazu verfestigt anzunehmen, dass Juden prinzipiell Feinde der Muslime seien. Bei einer starken Identifizierung mit dem Kollektiv »der Muslime« führt das dann zu einer Übernahme dieser Vorstellung: »Juden sind meine Feinde.« Anlässe wie der Nahostkonflikt werden dann hierbei als Bestätigung gesehen.

Welche Rolle spielt das jeweilige soziale Umfeld für diesen? Ich denke da an muslimische Communities, Moscheeverbände, bestimmte Imame, Jugendclubs und andere soziale Einrichtungen… Natürlich aber auch an Satellitensender wie den Hisbollah nahen Al-Manar.

G.J.: Viele Moscheeverbände in Deutschland sind offiziell »gegen Antisemitismus«, was nicht heisst, dass man beispielsweise in ihren Buchläden keine antisemitischen Schriften findet. Hinzu kommt, dass die allerwenigsten bereit sind, antisemitische Vorstellungen ihrer Gemeindemitglieder zu kritisieren oder gar judenfeindliche Texte im Koran und anderen heiligen Schriften kritisch zu interpretieren. Der Antizionismus dient nach wie vor oft als Deckmantel für Antisemitismus, ebenso wie eine Parallelisierung von so genannter »Islamophobie« und Antisemitismus. Eine Ausnahme bilden oft alevitische Verbände mit einer sehr liberalen Koranauslegung. Bei dem in vielen Bundesländern jetzt sukzessive eingeführten Islamunterricht sollte sehr genau hingeschaut werden, welches Bild vom Islam vermittelt wird. Problematische Textstellen müssen angesprochen und kontextualisiert werden, ansonsten sind Islamisten glaubwürdiger, die auf diese Textstellen als Wort Gottes pochen. Wesentlich relevanter für die Verbreitung antisemitischer Vorstellungen ist aber das soziale Umfeld, Freunde und Familienmitglieder. Leider konnte in soziologischen Studien festgestellt werden, dass sich in bestimmten sozialen Kreisen eine antisemitische Norm gebildet hat, d.h. Judenfeindschaft wird als normal angesehen und jemand der oder die sich gegen Antisemitismus ausspricht oder negativen Vorstellungen über Juden widerspricht, bildet eine Ausnahme. Antisemitismus als Norm schlägt sich auch in der Sprache nieder, beispielsweise in der Verwendung von »Jude« als Schimpfwort. Diese selbstverständliche Ablehnung alles Jüdischen findet sich nicht nur unter Menschen mit muslimischem Hintergrund, aber eben auch. Eine Zustimmung zu antisemitischen Statements ist unter Muslimen wesentlich häufiger zu finden, als unter nicht-Muslimen, wie zahlreiche Studien auch unter Berücksichtigung von Faktoren wie sozialer Schicht, Bildung, Migration, etc. belegen. In islamistischen Organisationen nahestehenden arabischen und türkischen Medien inkl. der Filmindustrie, ist Antisemitismus zudem keine Seltenheit und trägt ebenfalls zu dessen Verfestigung bei.

In der wissenschaftlichen Forschung werden die aktuellen Vorfälle häufig heruntergespielt. So sehen einige Antisemitismusforscher beispielsweise weder eine Veränderung des Antisemitismus noch ein lawinenartiges Anwachsen in Deutschland. Zugleich jedoch liest man von tausenden französischen Juden, die lieber »lieber in Israel im Bunker als am Boulevard in Paris« (1) leben und von deutschen Juden, für die »(…) nicht mehr viel (fehlt), bis wir das Gefühl bekommen werden, es wäre besser unsere Koffer zu packen.« (2) Wie beurteilst Du die aktuellen Entwicklungen? Kann man von einer neuen Qualität antisemitischer Gewalt sprechen und falls ja, welche Ursachen würdest Du für diese ausmachen?

G.J.: Die antisemitischen Vorfälle haben eine neue Dimension erreicht, spätestens mit dem Terroranschlag auf die jüdische Schule in Toulouse. Die Auswirkungen auf jüdische Communities in ganz Europa sind erheblich. Bis zu dem Anschlag haben sich viele Eltern gesagt: »Wenn der Antisemitismus in den öffentlichen Schulen zu stark wird, können wir unsere Kinder ja auf eine jüdische Schule schicken, dort sind sie sicher.« (Der zunehmende Antisemitismus war in vielen Fällen in Deutschland und Frankreich ein Grund, weshalb die Anmeldungen in jüdischen Schulen stark stiegen.) Dieses Gefühl der Sicherheit in jüdischen Einrichtungen ist nun nicht mehr der Fall, auch wenn die Sicherheitsvorkehrungen verschärft werden. (3) Wenn Eltern um die Sicherheit und Zukunft jüdischer Kinder in Europa bangen, ist das kein gutes Zeichen – weder für Juden noch für Europa. Der Anschlag in Brüssel auf das jüdische Museum, ein europaweiter Anstieg antisemitischer Gewalt in den letzten 15 Jahren und jetzt der offene und in Gewalt umgesetzte Antisemitismus auf der Straße in zahlreichen Städten verstärkt dieses Unsicherheitsgefühl.

Oftmals wird muslimischer Antisemitismus mit Verweis auf die Diskriminierungserfahrungen der Täter oder den »Nahostkonflikt« und einer angenommenen Identifizierung mit den Palästinensern entschuldigt oder aber aus Angst davor, Diskriminierungen zu schüren, erst gar nicht thematisiert. Gelegentlich werden sogar antisemitische Übergriffe nicht zu Anzeige gebracht, weil die Opfer die strafrechtlichen Konsequenzen für den Täter fürchten. Wäre es statt dieses Paternalismus‘ nicht angebrachter muslimische Antisemiten ernst zu nehmen, sowohl mit dem was sie sagen und tun als auch als Subjekte, die weder als Antisemiten geboren noch dazu verdammt sind, solche zu bleiben? Und hätte nicht hier genau wissenschaftliche Forschung wie auch soziale Arbeit anzusetzen?

G.J.: Dem kann ich so nur zustimmen. Es fällt nach wie vor vielen schwer, darunter auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, zu sehen, dass es tatsächlich auch heute noch Antisemiten gibt. Die können trotzdem sympathische Seiten und selbstverständlich auch ihre eigenen Probleme haben. Wenn jemand aber Juden beschimpft oder deren Tod wünscht, denn darauf darauf läuft der moderne Antisemitismus hinaus, dann sollte man das ernst nehmen und nicht reflexartig nach Entschuldigungen suchen.

Vielen Dank für das Interview.

Günther Jikeli ist Fellow am Centre nationale de la recherche scientifique, Paris, sowie am Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam. Er ist Autor von »Antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen junger Muslime in Europa« (Klartext 2012) und Mitherausgeber von »Umstrittene Geschichte – Ansichten zum Holocaust unter Muslimen im internationalen Vergleich« (Campus 2013).

Fußnoten
(1) www.spiegel.de.
(2) www.rp-online.de.
(3) Dies belegt sehr deutlich eine Umfrage im Auftrag der Fundamental Right Agency der EU vom November 2013, www.fra.europa.eu.

Konjunktiv und Indikativ sind auch nur zwei Modi des gleichen tristen Alltags

Warum man Julia Engelmann nicht mögen muss, um sie gegen ihre Kritikerinnen zu verteidigen

Anna Blume / HUch!

Das Video ist alt, dessen Message noch viel älter und doch bewegt Julia Engelmanns »One Day/Reckoning Text« seit Anfang des Jahres die Gemüter. »Fake« schreien die einen; die Nervosität, das Schwitzen, die unruhigen Handbewegungen und das verschüchterte Lächeln – alles nur Show, überhaupt nicht authentisch. Sicher, Julia Engelmann ist Schauspielerin und das auch nicht erst seit gestern, aber jeder Poetry-Slam ist Show; niemand geht dort spontan und unvorbereitet auf die Bühne, um einen Text vor hunderten Zuschauern zu performen. Auch gewinnt nicht der mit dem ausgefeiltesten Text, dem anspruchsvollsten Metrum oder so, sondern wer in fünf bis zehn Minuten die Masse für sich gewinnen kann und dies macht man bekanntlich nicht, indem man mit Hör- und Sehgewohnheiten bricht.

In der Welt des Poetry-Slams will man dies allerdings nicht so recht wahr haben und beklagt sich stattdessen lieber darüber, dass die Performance Engelmanns »die vielen Stunden Arbeit, die unsäglichen Tränen und Niederlagen, die jeder hart arbeitende Lyriker in seine Texte investiert, [untergräbt]«. Anders als Engelmann täten ›richtige‹ Poetry-Slammer »Tag für Tag nichts anderes, als nach neuen Worten und Satzfragmenten zu suchen, um alte Sachverhalte auf eine tiefgründige und imaginative Weise neu auszudrücken« und nun würden diese »von oberflächlichen Slammern in die zweite Reihe gedrängt«.(1) In Zeiten, in denen alle immer mehr erfahren wollen, obwohl es nicht einmal mehr was zu erleben gibt; in Zeiten, in denen alle immer wortgewandter und tiefgründiger alles sagen wollen, obwohl niemand mehr auch nur irgendetwas mitzuteilen hat; in solchen Zeiten ist es einfacher, das »anti-lookism-Ticket« zu ziehen – nichts anderes sind die gegen Engelmann erhobenen Vorwürfe, »blond und hübsch« (2) zu sein –, als sich einzugestehen, dass die eigenen Vorstellungen von Poetry-Slam mindestens naiv, wenn nicht gar selten dämlich sind. Dessen vermeintlich subversives Element ist auch nur Teil des Immergleichen der Kulturindustrie.

Zwar gibt man zu, neidisch auf den Erfolg Engelmanns zu sein. Dass diese dafür wahrscheinlich hart, wenn nicht sogar noch härter gearbeitet hat als man selbst, mag man jedoch nicht in Erwägung ziehen. Im Geiste protestantischer Ethik spricht man zudem jeglichem Erfolg, der nicht in schweißtreibender Arbeit erreicht wurde, die Existenzberechtigung ab. Nun muss man Engelmanns Performance nicht mögen, um festzustellen, dass ihr der Versuch, sich als »Anwalt gesellschaftlicher Veränderungen« zu geben, geglückt ist – wenn auch nicht gleich beim Poetry-Slam im Mai letzten Jahres im Bielefelder Hörsaal, sondern erst sieben Monate später via Youtube. Durch »Geständnisse ihrer Sorgen und Schwächen«, durch die »scheinbar ungeschminkte Schilderung ihrer Persönlichkeit« gelingt es ihr, eine »Atmosphäre häuslicher Intimität« zu schaffen und nicht nur die »Neugier ihrer Zuhörer zu befriedigen«, sondern sich auch »wie jemand aus ihrer Mitte, der ihre innersten Gedanken formuliert«, zu geben und sich als »Ersatzindividualität« zu etablieren. Zugegebenermaßen funktioniert das Identifikationsmoment in der Nahaufnahme des Youtube-Videos weitaus besser als inmitten des Bielefelder Hörsaals weit entfernt von ihren Zuhörern und damit auch zugleich Juroren; wohl auch deshalb zogen damals andere ins Finale ein.

In ihrem Text verallgemeinert Engelmann »nicht eine intellektuelle Wahrnehmung, sondern eine übertriebene Emotion«. Dennoch ist es wichtig festzuhalten, dass die Gefühle, an die sie hierbei appelliert, »weder als willkürlich noch als gekünstelt ignoriert werden [können]«; sie sind der modernen Gesellschaft inhärent. Statt sie jedoch »auf irgendwelche deutlich umrissenen materiellen oder moralischen Zustände zu beziehen« und eine »Veränderung der politischen Struktur« zu fordern etc., »beziehen sich ihre Antworten auf ein ›wer‹«? – Ich! Wir! Insofern spricht Engelmann auch nicht über die Welt, sondern über sich und setzt in schlechter idealistischer Tradition Subjekt und Objekt, Innen und Außen in eins. Statt auf die »Ursachen [des] sozialen Übels in einer ungerechten oder überholten Gesellschaftsform oder der schlechten Organisation der gegenwärtigen Gesellschaft« zu reflektieren, flüchtet sie sich in Pseudo-Aktivität. Die Geschichten, die sie gern später erzählen würde, haben mit Erfahrung nichts gemein, sondern sind Höchstleistungen der Bedeutungslosigkeit.

Doch nicht nur Engelmann, auch ihre Kritikerinnen von der Mädchenmannschaft sind unfähig oder unwillig sich einzugestehen, dass sie keine Vorstellung von der Zukunft haben, die etwas anderes sein könnte, als eine Verlängerung des Hier und Jetzt. Indem sie mit ihrem inneren Schweinehund spazieren gehen, glauben sie sich »der Selbstoptimierung und dem ganzen Leistungsquatsch« (3) entziehen zu können und verkennen, dass man heutzutage in jedem Zeitmanagementseminar lernt mit eben jenem Frieden zu schließen, ja ihn als innere Gewerkschaft zu betrachten, die einen vor dem Burnout bewahren soll. Ganz im Sinne der Do-It-Yourself-Ideologie flüchten auch sie sich in Pseudo-Aktivität und meinen ihrem sinnlosen Socken-Stricken und -Aufdribbeln noch etwas Subversives, ja gar ein Moment des Nicht-Mitmachens abgewinnen zu können. Dass sie sich damit in bester Gesellschaft Julia Engelmanns befinden, wollen sie nicht wahrhaben. Ähnlich wie diese bieten sie einen »Scheinprotest« an, der zu nicht mehr taugt als zur konformistischen (Pyjama-Party-)Rebellion. Ganz gleich ob Frühaufsteher oder Langschläfer, carpe diem oder carpe noctem, Julia Engelmann oder Mädchenmannschaft, Yoga oder about blank – sie alle sind nur »Reflex auf die verwaltete Welt« und «wiederhol[en] jene in sich selbst.« (4) Sie alle verstellen den Ausgang aus der »Malaise des Unbehagens«, wie Norbert Guterman und Leo Löwenthal diesen Grundzustand des modernen Lebens in ihrer Studie zur faschistischen Agitation Falsche Propheten, der alle vorangegangenen und nicht anderweitig nachgewiesenen Zitate in leicht veränderter Form entstammen, bezeichneten.

Selbstverständlich, das sei abschließend bemerkt, handelt es sich bei Julia Engelmann nicht um eine faschistische Agitatorin. Dennoch ist es bemerkenswert, wie viele der Momente, die Guterman und Löwenthal an jenen ausmachten, sich bei ihr wiederfinden lassen und letztlich ist der Schritt nicht weit vom »ich« und »wir« zum »sie«, also von der Identifikation verhasster Anteile der eigenen Person zur Projektion dieser auf andere.

Fußnoten
(1) Laura Nunziante: Das Anagramm für „Hochkultur“ ist nicht „Julia Engelmann“.
(2) Ebd.
(3) Mädchenmannschaft: Samstagabendbeat mit einem Julia Engelmann-Remix.
(4) Theodor W. Adorno: Marginalien zu Theorie und Praxis, in AGS 10.2, S. 772.

»Vergesst Auschwitz! Denkt an Israel – bevor es zu spät ist«

Eine etwas andere Rezension

Anna Blume / HUch!

Anfang 2010 geisterte ein Video durch’s Internet, in dem der Auschwitz-Überlebende Adam Kohn zu Gloria Gaynors »I will survive« tanzte. Gemeinsam mit seiner Tochter und seinen drei Enkeln feierte er – zum Teil im weißen Pullover mit der Aufschrift »survivor«, zum Teil mit einem an die Kleidung gehefteten Gelben Stern – sein Überleben an Orten des nationalsozialistischen Terrors: in Auschwitz, Dachau, Theresienstadt und Łódź. Während die einen darin den jüdischen Mittelfinger sahen – »Ich lebe!« –, empfanden andere dies als »geschmacklos«, »respektlos« und »Verhöhnung der Opfer«; sie warfen seiner Tochter, die sich zugleich als Künstlerin für das Video verantwortlich zeichnete, vor, mit dieser »Provokation« nur ihre eigene Karriere voranbringen zu wollen. Wieder einmal führten sich Deutsche als »Bewährungshelfer« (Wolfgang Pohrt) der Juden und Jüdinnen auf; diesmal jedoch um ihnen zu erklären, wie man den Toten, ihren Toten richtig zu gedenken habe: Mit einem Holocaust-Mahnmal, »wo man gerne hingeht« (Gerhard Schröder), und um das – gemäß des Faschismusforschers Eberhard Jäckel – andere die Deutschen beneiden; mit Schulen, die nach Anne Frank, Hans und Sophie Scholl benannt sind; mit »Klassenreise[n] in das nächstgelegene KZ«* (S. 171) und natürlich mit Gedenkveranstaltungen, die anlässlich von Jahrestagen zuhauf organisiert werden und zu denen man die letzten Überlebenden nicht selten unter widrigsten Bedingungen hin karrt, damit diese unter den Augen der Deutschen ihrer Toten gedenken – selbstverständlich erst nachdem sie, günstigsten falls »nur« dröge, Politiker-Reden und den Kranzabwurf der Nachkommen der Täter ertragen mussten.

Auschwitz, ursprünglich Metapher für den »Zivilisationsbruch« (Dan Diner), ist heute zum Symbol der »Selbstabsolution«, zu einer »Wellness-Oase der Vergangenheitsbewältigung« geworden, wie der Publizist Henryk M. Broder im Interview mit dem Focus im März letzten Jahres konstatierte. In seinem neuesten Buch »Vergesst Auschwitz! Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israel-Frage« beschreibt er eine »gigantische Erinnerungs- und Gedenkindustrie« (S. 11), der er das Vergessen vorziehen würde, denn so, »wie die Erinnerung heute praktiziert wird, ist sie eine Übung in Heuchelei, Verlogenheit, Scheinheiligkeit und Opportunismus. Und sie bereitet den Weg für kommende Katastrophen vor.« (S. 12) Die Erinnerung an den Holocaust ist nicht nur die »erste Bürgerpflicht« (S. 12) der Deutschen, sie dient auch zugleich als »Warnung vor den Verbrechen der Juden.« (S. 49) Die Versinnbildlichung dieser »deutsche[n] Erinnerungskultur im Hardcore-Format« (S. 49) stellt der frühere außenpolitische Sprecher der Linkspartei Norman Paech dar: Als Mitglied des Auschwitz-Komitees gedenkt er den toten Juden, als Menschenrechtsaktivist segelt er gemeinsam mit türkischen Islamisten gen Gaza um der dortigen Bevölkerung abgelaufene Medikamente und kaputtes Spielzeug zu überbringen. Was wie ein Widerspruch erscheinen mag, entspringt einer Logik, nach der sich die historische Verantwortung der Nachkommen der Täter darin erschöpft, »die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten« (S. 34). Statt »die kommende Endlösung der Nahostfrage zu verhindern« (S. 34), sind »die Deutschen dazu verpflichtet, darauf zu achten, dass die ‚Juden und Jüdinnen‘ nicht rückfällig werden.« (S. 152)

Der so genannte Nahost-Konflikt mag in Anbetracht der welthistorischen Entwicklungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Zahl seiner Opfer einer der unwichtigsten Konflikte der Gegenwart sein; die Antisemiten jedoch sind von ihm obsessiv besessen. Dabei ist ihnen gleich, wenn »bei internen Auseinandersetzungen zwischen der Hamas und der Fatah erst Fatah-Leute von den Hamas-Leuten und dann Hamas-Leute von den Fatah-Leuten massakriert« (S. 41f) werden; »die Antizionisten vom Dienst wachen erst auf, wenn Israel ins Spiel kommt« (S. 42), weswegen der Verdacht naheliegt, »dass sie [Anm.: die Palästinenser] nur als Alibi und Ausrede benutzt werden, um Israel auf der Anklagebank halten zu können.« (41) Die »Verlagerung der deutschen Vergangenheit auf Israel« (S. 23) bietet den Antisemiten die Möglichkeit, den Widerstand der Eltern nachzuholen, weswegen »damals wie heute […] die Israelkritik nicht ohne Rekurs auf das Dritte Reich aus[kam].« (S. 24)

Auf der Suche nach einem »Heilmittel für das Leiden an der eigenen Krankengeschichte« (S. 159) stellt die »Islamophobie« (Fn 1) ein probates Mittel dar, denn »wenn die Palästinenser die Juden von heute sind, und die »Islamophobie« den Antisemitismus ersetzt hat, dann muss man sich mit dem Palästinensern solidarisieren und die »Islamophobie« bekämpfen, wenn man besser als die eigenen Eltern und Großeltern sein will« (S. 44); sie hilft also „die eigene Geschichte erfolgreich [zu] entsorgen und sich zugleich zum Retter einer bedrohten Minderheit auf[zu]schwingen“ (S. 124).

Ursprünglich als Kampfbegriff von Ayatolla Khomeini 1979 entwickelt, ist das Kuckucksei der »Islamophobie« spätestens seit der Konferenz »Feindbild Muslim – Feindbild Jude«, welche das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung im Dezember 2008 an der dortigen Technischen Universität veranstaltete, aus der deutschen Vorurteilsforschung nicht mehr wegzudenken. Dieser jedoch mangelt es schon seit ihrer institutionellen Begründung Anfang der 1980er Jahre an einem Begriff von Antisemitismus; ganz gleich ob man Klaus Holz‘ Figur des Dritten, das von Wilhelm Heitmeyer geprägte Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit oder aber Wolfgang Benz‘ Was ist Antisemitismus? näher betrachtet, sie alle scheitern daran, den Antisemitismus in seiner spezifischen Dimension, d.h. sein qualitatives Moment als umfassende angebliche Erklärung der modernen Welt, zu fassen. Wer jedoch den Unterschied zwischen Vorurteilen als »Stufen zur Urteilsbildung, [die] korrigierbar und durch Erfahrung revidierbar« (S. 120) sind und Ressentiments, »die durch keine Tatsache zu erschüttern« (S. 120) sind, nicht zu erkennen vermag, der kann auch die Süddeutsche Zeitung mit Klopapier vergleichen, »denn beide sind aus dem gleichen Material hergestellt und nur verschieden formatiert, also in einer Hinsicht gleich und in einer anderen ungleich« (S. 126f), oder eben den Vorwurf des »Ritualmords« mit dem des »Ehrenmords« gleichsetzen, also den Antisemitismus mit der »Islamophobie«. Die große Popularität, der sich der letztere gleichsetzende Vergleich erfreut, rührt wohl nicht zuletzt daher, dass »wenn die Moslems die Juden von heute sind, […] uns das die Chance [gibt], die Geschichte zu korrigieren, ein zweites Auschwitz zu verhindern.« (S. 131) Die »Islamophobie« ist also Teil jenes »deutschen Generationenvertrages« (S. 32), der den »Wutbürgern« durch das Bewahren von Bäumen vor dem Umbetten, durch das Aufhalten eines Castor-Transportes für einige Stunden etc. zu einem »widerständigen Leben« (S. 32) verhelfen soll, mit dem sie den Geschwistern Scholl in nichts nachzustehen scheinen. Einem derartigen Widerstandsbegriff jedoch sind Juden, die sich wie 1976 in Entebbe selbst halfen, anstatt sich an der Diskussion über transitive und intransitive Verben abwartend zu beteiligen – als mache es einen Unterschied, ob der Iranische Präsident die Juden zielgerichtet und aktiv eliminieren oder aber ungezielt und passiv verschwinden lassen möchte – zuwider. Gleiches gilt für Juden, die sich für das Leben entscheiden; ganz gleich ob es sich hierbei um Adam Kohn und seine Familie handelt oder aber um eine Gruppe israelischer Jugendlicher, die sich während ihrer Auschwitz-Reise eine Stripperin ins Hotel bestellte. Die »Lieblingsjuden der Deutschen« (S. 170) sind tote Juden, diese stören ihre »Wellness-Oase der Vergangenheitsbewältigung« nicht; auch erinnern sie sie nicht an den gescheiterten Versuch ihrer Eltern und Großeltern, Europa »judenrein« zu machen – denn »schlimmer, als ein Verbrechen zu verüben, ist es, ein Verbrechen nicht zu Ende gebracht zu haben.« (S. 35)

Was Broders Vergesst Auschwitz! als »Klammer, […], Fortsetzung, […] Ergänzung und […] Abschluss vom »Ewigen Antisemiten««, wie er selbst sein Buch im Gespräch mit dem Stern charakterisierte, aussagen wolle, erfasste kaum jemand besser als Gudrun Eussner. Ihr Statt einer Rezension sei abschließend zitiert:

»Erst wenn der letzte Koffer eines Deportierten konserviert, der letzte Nazi-Kriegsverbrecher verurteilt, der letzte der sechs Millionen jüdischen Namen in Plaketten eingemeißelt ist, werdet ihr merken, daß niemand damit Israel geholfen hat.« (Fn 2)

* Alle Zitate entstammen, soweit nicht anders vermerkt, dem unten stehenden Sammelband. Die dem Zitat zugehörige Seitenzahl befindet sich jeweils in Klammern dahinter.

Henryk M. Broder: Vergesst Auschwitz! Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israel-Frage; München 2012 – 176 Seiten, 16,99 Euro.

Fußnoten
(1) Zur Genese des Begriffs „Islamophobie“ siehe u.a. Stephan Grigat: Kampfbegriff „Islamophobie“; In: http://www.cafecritique.priv.at.
(2) Gudrun Eussner: Henryk M. Broder: Vergeßt Auschwitz! Statt einer Rezension; In: eussner.blogsport.de.

Alles falsch. Auf verlorenem Posten gegen die Kulturindustrie

Anna Blume / HUch!

Wer durch den Besuch von Lehrveranstaltungen zu Kritischer Theorie beschädigt und über das Niveau, auf dem diese – wenn auch nicht nur, so jedoch insbesondere – dort verhandelt wird, erschrocken ist, fragt sich bei jedem neu erscheinenden Feuilletonartikel und jedem Buch, bei jeder Dokumentation und jedem Radiofeature, die anlässlich von Jahrestagen zuhauf produziert bzw. aus den Schubladen hervorgeholt werden, wie unerträglich es dieses Mal wird; zu prägend waren die in Seminaren und Vorlesungen gemachten Erfahrungen, in denen „Adornos Gesellschaftskritik auf Alltagsgewäsch herunter[gebracht]“* (S. 47) wurde, in denen „ständig menschelnde Anekdoten erzählt [wurden], die nichts zur Sache tun“ (S. 41), in denen man Adorno – beispielsweise durch die Wahl seines Spitznamens als Passwort für eine Lernplattform – „ankumpelte“ (S. 11) und zu guter letzt eine Studentin gar ihren Oberkörper während ihres Referates über „Unmöglichkeiten nach Auschwitz“ entblößte. In Anbetracht all dessen kann man nur zu gut nachvollziehen, dass der Herausgeber der Gesammelten Schriften Adornos, Rolf Tiedemann als „Schutzmaßnahme gegen die Verzweifelung angesichts dessen, was die Gesellschaft über ihren Kritiker – und damit über sich selbst – zu sagen hatte“ (S. 10), vor den Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag Adornos für einen längeren Zeitraum aus Deutschland floh. Denn gefeiert wurde nicht Adornos Geburtstag, sondern sein Tod. So soll wohl auch der Glaskubus des 2003 auf dem Frankfurter Adorno-Platz errichteten Adorno-Denkmals nicht primär das darin arrangierte Mobiliar vor Vandalismus und Diebstahl schützen, sondern Adorno und seine Gesellschaftskritik „’draußen’ […] lassen“ (S. 53), um nicht zu sagen, wegsperren. Zugespitzt könnte man sagen: Dieses Denkmal versinnbildlicht in seiner Gesamtkonzeption die Bestrebungen „Adornos Kritik mit gönnerhafter Miene ad acta legen“ (S. 53) zu wollen.

All diesen Phänomenen – wenn auch eher auf das Feuilleton und den 100. Geburtstag Adornos denn auf den alltäglichen Wissenschaftsbetrieb und die eingangs dargestellten Erfahrungen bezogen – widmet sich Dirk Braunstein in seinem Beitrag „Kulturindustrie is coming heim“ in dem von ihm gemeinsam mit Sebastian Dittmann und Isabelle Klasen herausgegebenen Sammelband „Alles falsch. Auf verlorenem Posten gegen die Kulturindustrie“, welcher im April 2012 beim Berliner Verbrecher Verlag erschienen ist. Anhand unzähliger Feuilleton- und Buchbeiträge zeigt Braunstein auf, wie durch „die massenhafte Verbreitung von Gerüchten, Halbwahrheiten und blanken Lügen“ (S. 14) und durch das „[Durchwühlen] sein[es] Tagebuch[es] und seine[r] Korrespondenz auf der Suche nach belastendem Material […]“ (S. 31) „[versucht] wurde die Person Adornos zu diskreditieren […]“ und ihn „als andersartig [zu] denunzier[en], sei es als jemand, der von der sexuellen Norm abgewichen sei, sei es als weltfremder Professor, sei es als Jude.“ (S. 54) Fast überflüssig zu betonen, dass sich in diesen Feuilletonbeiträgen – wenn schon nicht für Adorno als Theoretiker – auch nicht wirklich für seine Person interessiert wurde; einzig interessant erschienen den AutorInnen dieser Schmähschriften Adornos Schwächen. Auch heute noch scheint man sich – so resümiert Braunstein seine Analyse – darin einig zu sein, „daß das Private öffentlich und das Öffentliche, alles, was man Werk nennen könnte, privateste Angelegenheit spinnerter Adorniten sei.“ (S. 55)

Im Unterschied zu diesem common sense ist es das Anliegen der HerausgeberInnen des Bandes „Texte zu versammeln, denen die Publikation andernorts vermutlich versagt geblieben wäre.“ (S. 7) In Zeiten, in denen „es üblich geworden ist, innerhalb der Kulturwaren zu differenzieren, um so deren vermeintliche Freiheitspotentiale zu entdecken“ (S. 7) – man denke nur an die unzähligen Aufsätze über Buffy und Co –; in Zeiten, in denen vermeintlich gesellschaftskritische Seminare gemäß dem „schneller“, „höher“, „weiter“ und „besser“ der Kulturindustrie mit „cool“, „faszinierend“, „terrific“ und zu letzt „shoking“ beworben werden – denn „[n]ichts darf beim Alten bleiben, alles muß unablässig laufen, in Bewegung sein“ (Fn 1); in Zeiten also, in denen die Kritik der Kulturindustrie selbst Teil des von ihr kritisierten Gegenstandes ist, erscheint diese Vermutung mehr als begründet und das obwohl – oder gerade weil – die „Kritik an der Kulturindustrie so wenig überholt wie die an der Gesellschaft insgesamt“ (S. 7) ist. Kritische Theorie der Kulturindustrie ist dabei jedoch primär keine Kulturkritik, sondern stellt stattdessen eine „kritische Analyse des Warencharakters von Kultur“ (Fn 2) dar.

In seinem Beitrag „Reklame für die Welt, wie sie ist“ widmet sich Simon Durckheim der Verdopplung der Realität durch die Tautologie von Identität; Erkenntnis wird hierdurch zur ‚Self-fulfilling prophecy’ – „sein soll, was ohnehin schon ist“ (Fn 3), „werde was du bist“ (Fn 4). Indem also „das Subjekt lediglich das an der Sache erkennt, was es zuvor selbst in diese hineingelegt hat“ (S. 65), muß es „von allem Besonderen am Objekt absehen, das nicht in der Allgemeinheit der subjektiven Begriffe und Kategorien aufgeht“ (S. 66) wodurch auch jeglich qualitativ Neues verschwindet. Durch die Einheit von Realität und Ideologie produziert die Kulturindustrie selbst keine Ideologie; sie macht das bereits vorhandene Bewußtsein „noch einmal zur Ideologie“ (Herv. i. O., S. 74). Indem die Kulturindustrie den Zustand der Welt rechtfertigt und dessen vermeintliche Unveränderbarkeit propagiert, werden die Menschen zu dem gemacht, „was sie ohnehin sind, nur noch mehr, als sie es ohnehin sind.“ (Fn 5)

Im Rückgriff auf Kants „Kritik der Urteilskraft“ analysiert Magnus Klaue in seinem Aufsatz „Vom Geschmack zur Idiosynkrasie“ die Auswirkungen der Totalität der Kulturindustrie unter anderem auf die heutige Verwendung der Redewendung „Über Geschmack lässt sich (nicht) streiten.“ Rekurrierte sie ursprünglich auf den Doppelcharakter des Geschmacksurteils, in dem subjektiver Erfahrungsgehalt und objektiver Geltungsanspruch konvergieren, soll sie heute möglichen Streit bereits besiegeln, noch bevor sich auch nur ein Widerspruch formuliert. Am Beispiels eines Bandes zu „Literaturkritik und literarische Wertung“ für SchülerInnen der 11.-13. Klasse zeigt Klaue die „Verschmelzung von subjektiven und objektiven, von wahrnehmungs- und werkbezogenen Kriterien zu einem scheinneutralen Regelkatalog“ (S. 116) auf. Indem die Kulturindustrie das Bewußtsein um die Spaltung von Kunst in hohe und leichte auslöscht, bringt sie „nicht einfach die Erhabenen um ihr Privileg oder die Erniedrigten um ihre Zerstreuung, sondern alle um die Möglichkeit ungeteilten Glücks“ (S. 124).

Ausgehend von der Erkenntnis, dass sich Adornos und Guy Debords Theorien bis auf das Wort gleichen, geht Isabelle Klasen in ihrem Beitrag „Verblendungsspektakel“ der Frage nach, ob von beiden auch „die gleichen Schlussfolgerungen in Bezug auf die Kunst und deren gesellschaftliche Teilhabe gezogen werden“ (S. 168). Sie kommt zu dem Ergebnis, dass auch wenn Adorno und Debord das Misslingen von Kultur im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Verwirklichung der Ideologie sehen und in beiden Theorien „die Menschen ihre Entmenschlichung als Menschliches, als Glück der Wärme genießen“ (S. 181), Adorno im Unterschied zu Debord „an der Kategorie der Autonomie von Kunst – wenngleich kritisch – festhält“ (S. 191f).

Die letzten beiden Beiträge des Sammelbandes widmen sich dem Film und der Musik. Christoph Hesse untersucht in seinem Aufsatz „Film als Waffe“ die Entwicklung des Films von der „Waffe der Aufklärung (und der Manipulation)“ (S. 225) zu einem Blindgänger dessen „Dynamit der Zehntelsekunden historisch verpufft ist“ (S. 251), obwohl er technisch mit der modernsten Waffen mithalten kann. Mit dem Musikgedächtnis als der „am anspruchsvollsten trainierbare[n] aller menschlichen Gedächtnisformen“ (S. 270) setzt sich Robert Hullot-Kentor in seinem Beitrag „Land der Unähnlichkeit“ auseinander. Dieser war ursprünglich unter dem Titel „Things Beyond Resemblance“ als Vorwort zu Adornos „Philosophy of New Music“ erschienen und wurde von Christoph Hesse ins Deutsche übersetzt. Da die Musik „das musikalische Gedächtnis kolonisierte, indem sie die Hörer wirklicher musikalischer Erfahrung beraubt“ (S. 274), ist „[d]as Ohr mit seiner Fähigkeit, Musik zu hören, […] heute das am meisten verdummte und ausgebeutete Sinnesorgan von allen“ (S. 276). Hullot-Kentor zeigt zudem auf, warum Adornos „Philosophie der Neuen Musik“ im Englischen nur mit „New Music“, nicht aber mit „Modern Music“ übersetzt werden kann, wenn man den „feine[n] und sehr alte[n] Unterschiede[n] in der geistigen Entwicklung, die diese beiden Sprachen durchlaufen haben“ (S. 263), gerecht werden möchte.

Will Kritik sich nicht in ständiger Wiederholung selbst verschleißen, ist sie „fortzusetzen“; bereits das Kulturindustriekapitel der „Dialektik der Aufklärung“ endet mit dieser Aufforderung. Nur so kann sie „de[n] Einspruch des Lebens gegen seine Verfälschung unter dem Zwang übermächtiger Objektivität artikulier[en]“ (Fn 6). Als Teil einer solchen Fortsetzung kann der hier besprochene Sammelband verstanden werden.

*Alle Zitate entstammen, soweit nicht anders vermerkt, dem unten stehenden Sammelband. Die dem Zitat zugehörige Seitenzahl befindet sich jeweils in Klammern dahinter.

Dirk Braunstein / Sebastian Dittmann / Isabelle Klasen (Hg.): Alles falsch. Auf verlorenem Posten gegen die Kulturindustrie, Verbrecher Verlag, 320 Seiten Broschur, 15 EUR.

Fußnoten
(1) Theodor W. Adorno / Max Horkeimer: Dialektik der Aufklärung; Frankfurt am Main 2003, S. 142.
(2) Detlev Claussen: Fortzusetzen. Die Aktualität der Kulturindustriekritik Adornos, S. 139; In: Frithjof Hager / Hermann Pfütze (Hg.): Das unerhört Modere. Berliner Adorno-Tagung; Lüneburg 1990, S. 134-150.
(3) Theodor W. Adorno: Negative Dialektik; In: AGS 6, S. 342.
(4) Theodor W. Adorno: Beitrag zur Ideologienlehre; In: AGS 8, S. 476.
(5) Theodor W. Adorno, Prolog zum Fernsehen, S. 70; In: Eingriffe. Neun kritische Modelle; Frankfurt am Main 1963, S. 69-80.
(6) Detlev Claussen: Fortzusetzen. Die Aktualität der Kulturindustriekritik Adornos, S. 144; In: Frithjof Hager / Hermann Pfütze (Hg.): Das unerhört Moderne. Berliner Adorno-Tagung; Lüneburg 1990.

„Es geht gegen den Liberalismus. Liberalismus bedeutet: freies Denken. Kritisches Denken.“ (1)

Anna Blume / HUch!

Über die gegenwärtigen Bestrebungen der ungarischen Regierung kritische Intellektuelle mundtot zu machen

Anfang diesen Jahres wurde gegen die sechs der ungarischen Politik kritisch gegenüber stehenden Philosophinnen und Philosophen Ágnes Heller, Mihaly Vajda, György Gábor, Kornél Steiger, György Geréby und Sándor Radnóti der Vorwurf der „Zweckentfremdung“ von staatlichen Forschungsgeldern erhoben. Unabhängig davon, ob der Vorwurf berechtigt ist oder nicht, zeigt bereits ein flüchtiger Blick auf die gegen sie von der ungarischen Regierung und den ihr nahestehenden Medien Magyar Nemzet und Magyar Hírlap gefahrene Hetz-Kampagne, dass dieser bis heute unbewiesene Vorwurf und die mit ihm verbundenen und zum Teil bereits wieder eingestellten (2) polizeilichen Ermittlungen nicht mehr sind, als der Versuch diese Intellektuellen zum Schweigen zu bringen, ihre Kritik an der Politik der ungarischen Regierung zu delegitimieren und sie dadurch politisch zu isolieren. So wurden aus den über einhundert Forschungsprojekten der elf Fachbereiche der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA) genau diejenigen sechs zur Überprüfung ausgewählt, welche dem Fachbereich II Philosophie und Geschichte zugehörig sind und von den eingangs genannten, und in Ungarn als „liberal“ gebrandmarkt Intellektuellen geleitetet wurden. (3) Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Charakterisierung als „liberal“ im heutigen Ungarn verknüpft ist mit der „vaterlandslos-kosmopolitischen Gesinnung jüdischer Intellektueller“ (4). Diese Identifizierung und Charakterisierung erfolgt ausschließlich als negative Fremdzuschreibung, sodass der Begriff „liberal“ „nicht ohne einen deutlichen antisemitischen Unterton“ (5) verwendet wird. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Darstellung der Philosophinnen und Philosophen in den ungarischen Medien als „eingeschworener, konspirativer Zirkel“ (6), als „Hellers Bande, die Millionen schubkarrenweise aus dem Philosophischen Institut der MTA gestohlen“ (7) und somit die ungarische Nation verraten und verkauft hätten.

Dass es nicht nur um die betroffenen Philosophinnen und Philosophen beziehungsweise die Philosophie oder gar die Wissenschaft als solche geht, sondern letztlich alle Bereiche des öffentlichen Lebens von diesem „Kritik-Verbot“ betroffen sind, belegt unter anderem die unbegründete Streichung eines Sechstels der staatlichen Subventionen für das Festivalorchesters des ungarischen Dirigenten Iván Fischer, nachdem dieser sich in einem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kritisch über die Fidesz-Regierung unter Viktor Orbán geäußert hatte. Dies mag außerdem mit dazu beigetragen haben, dass der bei der diesjährigen Berlinale noch mit dem silbernen Bären für den Film Das Turiner Pferd ausgezeichnete ungarische Regisseur Béla Tarr kurz nach der Preisverleihung keine andere Möglichkeit sah, als sich von seinem damals gegebenen Interview mit dem Tagesspiegel zu distanzieren. In dem Interview mit dem Titel Die Regierung muss weg. Nicht ich charakterisiert er sich selbst als „freie[n] Mann. Aber leider nicht mehr aus einem freien Land“ (8), denn wer sich kritisch gegenüber der ungarischen Regierung äußert, riskiert angezeigt zu werden, Forschungsgelder oder gleich den Job zu verlieren. Das kritisierte der im Oktober letzten Jahres aus Protest gegen die politische Einmischung in seine Arbeit als Generalmusikdirektor der Ungarischen Staatsoper von seinem Amt zurückgetretene Ádám Fischer in seinem gemeinsam mit dem Pianisten András Schiff im Januar 2011 verfassten und unter anderem von Ágnes Heller und damals auch von Belá Tarr unterstützen Offenen Brief: „[…] [D]ie Freiheit der Medien, der Kunst und der Kulturschaffenden, also die Freiheit derer, die am wirksamsten solchen Tendenzen [des Rassismus gegen Roma, der Homophobie und des Antisemitismus] entgegentreten könnten, [wird] immer stärker eingeschränkt.“ (9) Zwar ist man sich den Grenzen der Wirkung von Kunst bewusst, denn „Kunst kann die Politik nicht ändern,“ dennoch „[sind] Künstler […] frei denkende Menschen, die ihre Meinung frei äußern und das“, so hofft András Schiff, „kann vielleicht auch andere zu mehr Zivilcourage inspirieren.“ (10)

Es ist schwer einzuschätzen, in welche Richtung die Entwicklung der ungarischen Gesellschaft in den nächsten Monaten und Jahren gehen wird. Einerseits „herrscht ein Klima der Angst“ (11); so reden beispielsweise viele Menschen aus Angst davor abgehört zu werden nicht über Viktor Orbán am Telefon. Dem hinzu kommt eine „große Apathie“ (12); laut einer Umfrage vom Februar 2011 würden mehr als 60% der ungarischen Bevölkerung nicht wählen gehen. (13) Gleichzeitig jedoch protestieren insbesondere junge Menschen immer mehr gegen die Abschaffung von bürgerlichen Freiheiten durch restriktive Verordnungen, so im Januar diesen Jahres Tausende vor dem Budapester Parlament gegen das neue Mediengesetz. Auch erfahren insbesondere die im Zuge der PhilosophInnen-Hetze angegriffenen Intellektuelle eine große internationale Unterstützung. Dennoch zeigt nicht zuletzt die Distanzierung Belá Tarrs von seinem regierungskritischen Interview im Tagesspiegel, dass der Druck auf kritische Intellektuelle in Ungarn sehr groß ist und dass diese oftmals auf dem Papier bekundete Unterstützung allein nicht wirklich etwas daran ändert, dass sich kritisch Äußernde riskieren Forschungsgelder oder den Job zu verlieren. Zumal nur wer wie Àgnes Heller „[…] keine Stelle mehr [hat], […] also auch keine verlieren [kann]“, „[…] keinen Grund [hat]“ (14) sich zu fürchten. Auch ist mit der Übergabe der EU Ratspräsidentschaft an Polen im Juli diesen Jahres zu befürchten, dass Ungarn aus dem Blick der öffentlichen Kritik wieder verschwinden wird. Doch solange die Fidesz-Regierung unter Viktor Orbán zumindest noch bemüht ist, kritisch Denkende zum Schweigen zu bringen, da sie die Konsequenzen von deren Kritik fürchten, können die Angriffe gegen Ágnes Heller und Co – so absurd das klingen mag – auch als Erfolg gewertet werden: „Man nimmt uns ernst.“ (15)

Mit besten Dank an Pusztaranger http://pusztaranger.wordpress.com/

Fußnoten
(1) Ágnes Heller interviewt von Johanna Adorján: Man soll nicht feige sein. Die Philosophin Ágnes Heller über die Hetzkampagne gegen sie und andere Wissenschaftler in Ungarn; In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 13. Februar 2011.
(2) Vgl.: Sándor Radnóti interviewt von Karl Pfeifer: „Sie schaffen die Demokratie ab“; In: Jungle World vom 10. März 2011.
(3) Vgl.: Julian Nida-Rümelin und Jürgen Habermas: Schützt die Philosophen! Aufruf von Habermas und Nida-Rümelin; In: Süddeutsche Zeitung vom 24. Januar 2011.
(4) Ebd.
(5) Offener Brief Laszlos Tengelyi’s vom 20. Januar 2011; In: http://pusztaranger.files.wordpress.com/2011/01/offenerbrief-tengelyi.pdf – zuletzt eingesehen am 24. Juni 2011.
(6) PusztaLeaks: Chronik eines Schauprozesses vom 3. Februar 2011; In: http://pusztaranger.files.wordpress.com/2011/02/pusztaleaks-schauprozesse2011-2-3.pdf – zuletzt eingesehen am 24. Juni 2011.
(7) Ebd.
(8) Béla Tarr interviewt von Jan Schulz-Ojala: „Die Regierung muss weg. Nicht ich“. Ein Bär, kein Wort. Mit dem Tagesspiegel spricht Béla Tarr über Politik in Ungarn und seine Zukunft ohne Filme; In: Der Tagesspiegel vom 7. März 2011.
(9) András Schiff und Ádám Fischer: An die Künstler in Europa und der ganzen Welt. Offener Brief vom Januar 2011; In: http://haydnphil.org/en/fischer.htm – zuletzt eingesehen am 25. Juni 2011.
(10) András Schiff interviewt von Johanna Adorján: In Ungarn fehlt es an mutigen Stimmen. Gespräch mit dem Pianisten András Schiff; In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 16. Januar 2011.
(11) Ágnes Heller interviewt von Johanna Adorján: Man soll nicht feige sein. Die Philosophin Ágnes Heller über die Hetzkampagne gegen sie und andere Wissenschaftler in Ungarn; In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 13. Februar 2011.
(12) András Schiff interviewt von Johanna Adorján: In Ungarn fehlt es an mutigen Stimmen. Gespräch mit dem Pianisten András Schiff; In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 16. Januar 2011.
(13) Vgl.: Ágnes Heller interviewt von Johanna Adorján: Man soll nicht feige sein. Die Philosophin Ágnes Heller über die Hetzkampagne gegen sie und andere Wissenschaftler in Ungarn; In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 13. Februar 2011.
(14) Ebd.
(15) Ebd.

„Black and white isn’t grey“

Anna Blume / Hagalil

Seit Ende des letzten Jahrtausends gibt es ein großes Interesse in Deutschland an Filmen über das Leben in der ehemaligen DDR. Die Erfolge von ‚Sonnenallee‘ (1998), ‚Good Bye Lenin‘ (2003) und ‚Das Leben der Anderen‘ (2005) sprechen für sich. Während die ersten beiden Filme durch eine romantisierte Darstellung der DDR in nicht geringem Maße zur ‚weißen‘ Ostalgie-Welle beitrugen, widmet sich letzterer der alltäglichen Überwachung durch die Stasi und damit der eher ’schwarzen‘ Seiten der DDR…

Obwohl diese Filme unterschiedlicher wohl kaum sein könnten, haben sie eins gemeinsam: sie alle waren mehr oder minder erfolgreich. Ganz anders ergeht es da den sogenannten ‚grauen‘ DEFA-Filmen. Sie sind eher ein Randphänomen, für das sich FilmhistorikerInnen und WissenschaftlerInnen außerhalb Deutschlands interessieren.

So fand vom 11. bis 26. November letzten Jahres eben nicht in Berlin, Hamburg oder München eine „Black and White isn’t grey“ Film-Retrospektive statt, sondern in den Kinos von Tel Aviv, Jerusalem und Haifa. Die Idee dafür hatte Ralf Dittrich, Kurator der DEFA-Retro, bereits Ende der 90er Jahre, als er in Tel Aviv Film studierte. Damals habe er festgestellt, dass viele Israelis kaum Wissen über die DDR, jedoch ein großes Interesse an ihr haben.

„Geh doch mal ins Kino, da verfliegt die Wut“ (1)

Dass diese Retrospektive nicht einfach nur DDR-Filme zeigen, sondern vor allem einen Einblick in das Leben im Osten geben wollte, wurde spätestens bei der Eröffnungsveranstaltung deutlich. So kamen die etwa 250 Besucher schon vor der offiziellen Eröffnung durch Ralf Dittrich in den Genuss von Manfred Krugs „Auf der Sonnenseite“, welches vom Band abgespielt wurden. Aber auch im Laufe der DEFA-Retro waren immer mal wieder Regisseure und Schauspieler wie Wolfgang Kohlhaase, Peter Kahane und Jutta Hoffmann als Gäste zu den Filmvorführungen geladen. Inhaltlich ergänzt wurde dies durch Vorträge in den jeweiligen Städten, wie beispielsweise die in Haifa von Julia Anspach für das Bucerius Institute organisierte Vortragsreihe zu „Film und Gesellschaft in Ostdeutschland“.

„Watching this DEFA film is like traveling in a timetunnel“ (2)

Im April 1945 wurden die alten Ufa Studios in Potsdam-Babelsberg und Berlin-Tempelhof von der Roten Armee besetzt. Nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 7. und 9. Mai desselben Jahres wurden durch das Military Government Law No. 191 weitere Filmproduktionen vorerst verboten. Etwa zwei Monate später wurde das Filmvermögen der Ufa-Film GmbH beschlagnahmt (Military Government Law No. 52) und jegliches Engagement in der Filmbranche unter Lizenz gestellt. (3)

Im Mai 1946 wurde in Potsdam-Babelsberg die Deutsche Film-AG (DEFA) gegründet. Der Leiter des Informationsamtes der SBZ, Oberst Sergej Tjulpanow, überreichte an Karl Hans Bergmann, Hans Klering, Alfred Lindemann, Kurt Maetzig und Willy Schiller die Lizenz für die „Herstellung von Filmen aller Kategorie“, nicht jedoch für deren Vertrieb. Ziel der DEFA war es, „in Deutschland die Demokratie zu restaurieren, die deutschen Köpfe von Faschismus zu befreien und auch zu sozialistischen Bürgern erziehen.“ (4) Zudem sollte die Filmindustrie entnazifiziert werden, also von „reaktionären Elementen und von undemokratischer antihumanistischer Ideologie und deren Protagonisten befreit werden.“ (5)

Melancholischer Antifaschismus

Demzufolge war Antifaschismus ein Sujet, welches den DEFA Film bis zu seinem Ende Anfang der 90er kontinuierlich begleitete. Die DDR präsentierte sich in Abgrenzung zur ‚faschistischen‘ BRD als das andere, ‚antifaschistische‘ Deutschland. Antifaschismus besonders in Form des kommunistischen Widerstands war ein wesentlicher Bestandteil der nationalen Identität. Vor allen Dingen Ende der 50er und Anfang der 60er wurde im Vergleich zu Filmen aus der BRD die NS-Vergangenheit viel stärker thematisiert. Auch gibt es einige Filme, die deutlich jüdische Figuren in den Vordergrund rücken, berichtet der Filmwissenschaftler Tobias Ebbrecht (Potsdam). Zu den bekanntesten antifaschistischen Filmen gehören Frank Beyers Filme ‚Fünf Patronenhülsen‘ (1960) und ‚Nackt unter Wölfen‘ (1963), Konrad Wolfs ‚Ich war neunzehn‘ (1968) und ‚Mama ich lebe‘ (1976) sowie Heiner Carows ‚Die Russen kommen‘ (1968/1987).

Trotzdem sind Kontinuitäten zwischen Ufa und DEFA-Film zu benennen. So wurden DEFA-Filme nicht nur in den Ufa-Studios produziert, auch in der Wahl des Melodramas als Genre, der Opfer-Ästhetik und dem Personal (Regisseure, Kameraleute, Ausstatter, etc.) zeigen sich einige Gemeinsamkeiten zum nationalsozialistischen Ufa-Film, berichtet Sabine Hake (University of Texas at Austin) in ihrem Vortrag. Am bekanntesten ist wohl der Fall des Wolfgang Zeller der nicht nur Filmkomponist von ‚Jud Süß‘ (1940), sondern auch von ‚Ehe im Schatten‘ (1947) ist.

Zwischen Kriegsfilm, Western und Melodrama

Entgegen gängiger Klischees ist ein DEFA-Film weder zwangsläufig schwarz-weiß noch ein Kriegsfilm, so Johannes von Moltke (University of Michigan). Ganz im Gegenteil, das Genre des DEFA-Films reicht von Western wie ‚Die Söhne der großen Bärin‘ (1965) und ‚Apachen‘ (1973), über Science-Fiction à la ‚Der schweigende Stern‘ (1960), bis hin zu Musical- und Revuefilmen wie ‚Heißer Sommer‘ (1968). Selbstverständlich gab es auch Kriegsfilme wie ‚Fünf Patronenhülsen‘ (1960), aber eben nicht nur. Was jedoch alle diese Filme vereint, ist, dass sie von offizieller Seite zuallererst als ein politisches Forum zur Verbreitung der politischen Anschauungen der SED angesehen wurden. Dafür jedoch braucht es kein bestimmtes Genre.

„Hier wird überhaupt nichts verbessert, da könnt ja jeder kommen“ (6)

Im Laufe der knapp 50jährigen Geschichte des DEFA-Films entstanden circa 750 Feature Filme von denen lediglich 20 verboten wurde. Das entspricht etwa drei Prozent, was deutlich weniger ist, als man hätte erwarten können. Hierfür benennt der Filmhistoriker Ralf Schenk (Berlin) im Wesentlichen zwei Gründe: zum einen mussten einige Hürden überwunden werden bis ein Film überhaupt erst einmal gedreht werden konnte, so befand sich das Gros an finanziellen und technischen Mitteln in staatlicher Hand. Zum anderen erlagen viele Regisseure dem vorauseilenden Gehorsam und zensierten sich bzw. ihre Arbeit selbst.

Nach einer anfänglichen kurzen Phase, in der den Filmschaffenden viel Freiheit für die Experimentierfreude zugestanden wurde, entwickelte sich ab 1950 ein Zensursystem in dem fundamentale Kritiken am Realsozialismus nicht erlaubt waren. So war es im Besonderen verboten Polizei, Armee und Bildungssystem zu kritisieren.

1965 verschärfte sich die Situation, Kunst und somit auch der DEFA-Film wurden als Grundlage allen Übels in der DDR angesehen und beispielsweise für die Desillusionierung der Jugend verantwortlich gemacht. Das 11. Plenum des ZK der SED verbot die gesamte Filmproduktion des Jahres 1965. Weder FilmhistorikerInnen und FilmbuchautorInnen noch FilmstudentInnen durften diese – wie auch alle anderen verbotenen Filme – sehen. Es war ihnen zudem nicht gestattet, über sie oder aber über die Zensur zu schreiben. In Folge dessen lernten Filmemacher wie sie sich ausdrücken sollten, was nicht selten in Selbstzensur endete. Viele der verbotenen Filme durften 1990/1991 und damit zu spät für den Realsozialismus beendet und gezeigt werden.

Verboten – aber nicht zerstört

Zerstört wurde jedoch keiner der Filme. Dies lag zum einen daran, dass die DDR auch die Produktion dieser Filme bezahlt hatte. Zum anderen und vor allen Dingen aber galt die Aussage Heinrich Heines, dass „dort wo man Bücher [oder Filme, A.B.] verbrennt, […] man auch am Ende Menschen [verbrennt ]“ (7) nach Auschwitz mehr denn je. Daher verbot es sich für einen antifaschistischen Staat qua Selbstverständnis Kunst zu verbrennen. Und so konnten während der DEFA-Retrospektive auch ehemals verbotene Filme wie ‚Die Spur der Steine‘ (1966) gezeigt werden.

Keiner der Filme lag vor der DEFA-Retro mit Hebräischen Untertiteln vor, sodass diese extra hierfür hergestellt wurden. Dass sich dies mehr als nur gelohnt hat, belegten die gut gefüllten Kinosäle in Haifa, Tel Aviv und Jerusalem. Selbst die englisch- und damit fremdsprachigen Lectures erfreuten sich mit durchschnittlich 60 Besuchern großer Beliebtheit, sodass Julia Anspach und Ralf Dittrich sehr zufrieden mit dem Verlauf der Retrospektive sind. Noch bevor diese vorbei war, fing Ralf Dittrich schon an, das nächste Projekt zu organisieren. Im April und Mai wird es in Deutschland, so auch in Berlin rund um den 60. Jahrestag der Staatsgründung Israels eine Israel-Retrospektive geben. Dann bekommt das deutsche Publikum Gelegenheit, Klassiker des israelischen Kinos der 50er, 60er und 70er Jahre zu entdecken. Es werden zum größeren Teil Filme gezeigt, die man hierzulande bisher kaum zu sehen bekommen hat und für die das Israel-Film-Archive extra von den meisten Filmen neue 35-mm-Kopien anfertigt. Denn die wenigen vorhandenen Kopien sind seit Jahren kaum noch vorführbar.

Mit besten Dank an den Filmwissenschaftler Tobias Ebbrecht für die Geduld und den inhaltlichen Support. Der Artikel erschien bereits in der Januar-Ausgabe der HUch! – Zeitung der studentischen Selbstverwaltung.

Fussnoten
1 Manfred Krug: Auf der Sonnenseite.
2 so Martin Schröter, Kulturattaché der Deutschen Botschaft in Tel Aviv bei der Eröffnungsveranstaltung des Festivals in Haifa.
3 Gegen den Regisseur Veit Harlan wurde Anklage wegen seines antisemitischen Propagandafilms ‚Jud Süß‘ als Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhoben. Auch wenn Harlan nach einigem hin und her zwischen Freispruch, Revision und Aufhebung des Freispruches letztendlich vom Landgericht Hamburg im April 1950 freigesprochen wurde, war es das erste Mal, dass eine derartige Anklage geführt wurde.
4 Zitiert nach http://de.wikipedia.org/wiki/DEFA.
5 Zitiert nach ebd.
6 aus dem DEFA-Film ‚Karla‘.
7 Heinrich Heine: Almansor.

Fremdverschulden nicht ausgeschlossen

Anna Blume / Hagalil

Ein Tod, der wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Schiller-Institut Lyndon LaRouches steht, beschäftigt das Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Vor etwas mehr als drei Jahren wurde der britische Student Jeremiah Duggan auf einer Bundesstraße in der Nähe von Wiesbaden tot aufgefunden. Nach Auffassung der Polizei wäre der 22-jährige in freiverantwortlicher suizidaler Absicht auf die Schnellstraße gerannt, hätte sich dort vor ein Auto geworfen und sei von einem weiteren überrollt worden. Dies habe zu seinem Tod geführt. Da der Ermittlungsführer der Polizei ein Fremdverschulden noch am Unfallort ausschloss, wurden keine weiteren Untersuchungen angestellt. Auch die von der Ärztin, welche zur Feststellung des Todes hinzugezogen wurde, empfohlene Obduktion, unterblieb. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren bereits zwei Monate später ein, obwohl die Mutter Jeremiahs, Erica Duggan, bereits sehr früh der Polizei erhebliche Zweifel an einem Selbstmord ihres Sohnes vortrug.

In den wenigen Tagen, die sich Jeremiah in Deutschland befand, nahm er erstmalig an einem Seminar des Schiller-Institutes in Wiesbaden teil. Das Schiller- Institut gehört zusammen mit der Partei Bürgerrechtsbewegung Solidarität (BüSo) und diversen Publikationen zu den deutschen Ablegern des La- Rouche Netzwerks, einer charismatischen Sekte die antisemitische und rechtsextreme Ideologien (1) vertritt.

Nur wenige Stunden vor seinem Tode erhielten seine Mutter und seine Lebensgefährtin Anrufe von ihm, in denen er sie verängstigt bat, ihn vom Seminar wegzuholen. Trotzdem wurden keine ernsthaften Ermittlungen bei Angehörigen des Schiller-Institutes und den TeilnehmerInnen des Seminars unternommen. Bis heute ist ungeklärt, was Jeremiah in den wenigen Tagen beim Schiller-Institut in Wiesbaden widerfahren ist, wie er am Morgen des 27. März 2003 auf die Bundesstraße bei Wiesbaden gelangte und was dort geschah.

Eins jedoch ist klar. So wie Polizei und Staatsanwaltschaft das Geschehen darstellen, war es nicht. Das belegen diverse deutsch- und englischsprachige Gutachten von Sachverständigen, die der Staatsanwaltschaft Wiesbaden und dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main vorgelegt wurden. In diesen wird beispielsweise thematisiert, dass auf den Fotos von den beiden am angeblichen Selbstmord Jeremiahs beteiligten Autos weder Blut, noch Haare oder andere Körperspuren zu finden sind. Wenn jedoch eine Person so stark von einem Auto getroffen wird, dass diese noch am Unfallort stirbt, sollte es so etwas geben. Auch befinden sich keine Reifen oder Überrollspuren auf Jeremiahs Körper, obwohl er von einem Auto überrollt worden sein soll. Dennoch weigerten sich Gericht und Staatsanwaltschaft, das Verfahren wieder zu eröffnen.

Erica Duggan erhofft sich von der Verfassungsbeschwerde eine Entscheidung, die den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt aufhebt und zu neuen, ernsthaften Ermittlungen über die genauen Todesursachen, die Verantwortlichen und einen Zusammenhang zum Schiller-Institut führt. Einer ihrer RechtsanwältInnen, Nicolas Becker, schätzt die Erfolgschancen als gut ein. Jedoch geht er davon aus, dass der Fall eher beim EGMR als beim Verfassungsgericht Gehör finden wird, da er für das BVG Neuland darstellt, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aber bereits in vergleichbaren Fällen verschiedene europäische Staaten wegen der Verletzung von Menschenrechten, insbesondere der Artikel 2 (Recht auf Leben und körperlicher Unversehrtheit) und Artikel 3 (Folterverbot) der Menschenrechtskonvention, verurteilt hat.

(1) Charismatische Sekte mit antisemitischer und rechtsextremer Ideologie
Bei dem international agierenden Netzwerk Lyndon LaRouches handelt es sich um eine charismatische Sekte: Sehr schnell werden die neugewonnenen Mitglieder aus ihrem sozialen Umfeld gerissen und von diesem isoliert. Der nun folgende regelmäßige Wechsel des Wohn- und Lebensortes soll verhindern, dass sie sich ein neues aufbauen können. Ihr Leben ist geprägt von Indoktrination und Gehirnwäsche durch die ständigen Schulungen und Aktionen mit anderen Mitgliedern. Wollen sie dieses Netzwerk verlassen, so drohen psychischer Terror, Gewalt und seltsam anmutende „Selbstmorde“. Nach den Vorstellungen La Rouches und seiner Jünger ist die Welt dem Untergang geweiht. Nur LaRouche hat den Masterplan dies zu verhindern, weswegen er von verschiedenster Seite bekämpft würde. Auch stehe die Weltwirtschaft kurz vor dem Zusammenbruch. Die Schuld hierfür sei bei gewissen Londoner Privatbanken und einigen Familien aus den USA zu suchen. Immer wieder wird von den Juden hinter Hitler und den jüdischen Interessen an diversen Wirtschaftskrisen gefaselt. Doch nicht nur Antisemitismus, auch Geschichtsrevisionismus und ein überaus stark ausgeprägter Nationalismus sind den Worten und Schriften der beiden Gurus dieser Sekte, Lyndon und Helga Zepp-LaRouche, zu entnehmen. Ihre Vorstellungen von Deutschlands Stellung in der Welt knüpft an kaiserzeitliche bzw. nationalsozialistische Großraumkonzepte an. Auch sehen sie den Nationalsozialismus lediglich als das Ergebnis einer Weltwirtschaftskrise an.

Weitere Informationen unter www.justiceforjeremiah.com

Der Artikel erschien bereits in der Dezember-Ausgabe der HUch! – Zeitung der studentischen Selbstverwaltung.

Nahostkonflikt „Private“ : Schon wieder ein misslungener Kinofilm zum Nahostkonflikt.

Anna Blume / Mut gegen rechte Gewalt

Dem Erfolg von Filmen wie „Paradise Now“ geschuldet, kommt jetzt die italienische Produktion „Private“ in die deutschen Kinos – mit zweijähriger Verspätung. Aber das Warten hat sich nicht gelohnt.

Die Geschichte ist schnell erzählt: Mohammed B. lebt mit seiner Frau und den vier Kindern im Niemandsland zwischen einem palästinensischen Dorf und einem israelischen Militärstützpunkt. Eines Nachts stürmen israelische Soldaten das Haus, erklären es für „besetzt“ und fordern die Familie zum Verlassen auf. Nachdem diese sich weigert, wird das Haus durch die Soldaten in drei Zonen aufgeteilt. Das Obergeschoss wird zum Militärlager, im Untergeschoss darf sich die Familie tagsüber aufhalten und ins Wohnzimmer wird sie nachts eingesperrt. Es folgt ein 90 minütiger Erguss über den Versuch der Familie trotz „Besatzung“ ein normales Leben zu führen. Kurz nachdem die Soldaten das Haus verlassen um zum nächsten Ort weiter zu ziehen, stürmen andere israelische Soldaten das Haus und besetzen es erneut. Ende.

Dokumentarischer Spielfilm à la „Paradise Now“

Natürlich beruht der Film – wer hätte es auch anders erwartet – auf einer wahren Begebenheit. Um einen Dokumentarfilm soll es sich hierbei aber dennoch nicht handeln, zumindest nach den Aussagen des Regisseurs und Co-Drehbuchautors Saverio Costanzo, der 2004 mit „Private“ seinen ersten Spielfilm drehte. Doch nicht zuletzt durch die Verwendung einer digitalen Handkamera und den langen, ungeschnittenen Einstellungen erhält der Film einen dokumentarischen Anstrich. Also ein „dokumentarischer Spielfilm“ à la Hany Abu-Assad, auch hier gilt: „Was nicht gedacht werden darf, soll nicht gezeigt werden“* und was gedacht wird bzw. werden soll, darf auch gezeigt werden.

Und so wird der Nahostkonflikt mit all seiner Komplexität metaphorisch verkürzt auf einen Konflikt zwischen zwei Parteien (palästinensische Zivilbevölkerung vs. Israelische Soldaten) unter einem Dach herunter gebrochen. Antisemitismus, politischer Islam und Selbstmordattentate finden so gut wie keine Erwähnung, lediglich letzteres kann man anhand einiger Fernsehausschnitte von Islamistischen Fundamentslisten erahnen.

Die europäische Wahrnehmung des Nahostkonfliktes – David (unterdrücktes palästinensisches Volk, in diesem Fall die Familie) gegen Goliat (Israel als Besatzer, in diesem Fall die israelischen Soldaten) – spiegelt sich ähnlich wie bei „Paradise Now“ auch in der Darstellung der einzelnen Figuren wieder.

Dichotome Rollenbilder und antisemitische Klischees

So sind alle Mitglieder der Familie gut, friedlich und lehnen jegliche Form von Gewalt ab. Dies ändert sich bei einigen, aber auch erst durch die israelische „Besatzung“.

Der ältere Sohn will ein Attentat verüben und bringt dabei fast seinen Vater um. Nur in letzter Sekunde kann er die Handgranate wieder sichern. Vor der „Besatzung“ war er ängstlich und verschüchtert. Die Propaganda im palästinensischen Fernsehen ließ ihn kalt. Dies änderte sich erst und auch nur durch die „Besatzung“.

Mariam B., die ältere Tochter – im Übrigen eine selbstbewusste, junge Frau, die im Westen studieren soll und so ganz und gar nicht exemplarisch für Frauen in der islamischen Welt steht – schleicht sich entgegen den Befehlen der Soldaten ins Obergeschoss. Sie führt lange Diskussionen mit ihrem Vater, in denen sie von ihm unter anderem einfordert sich zu wehren und nicht alles gefallen zulassen. Doch der westlich und modern gebildete Mohamed B., plädiert für passiven Widerstand und zitiert Shakespeare.

Lernt man die einzelnen Familienmitglieder von Anfang an gut kennen und erlebt die Geschichte durch ihre Augen, so darf man dies bei den israelischen Soldaten erst, nachdem man durch emotionale Ergüsse zum 7. Familienmitglied geworden ist und sich voll und ganz mit den Palästinensern identifiziert hat. Doch selbst dann werden die Israelis als plan- und ziellos dargestellt, sie wissen nicht, warum sie eigentlich in diesem Haus sind. Nicht zuletzt durch die erneute „Besatzung“ des Hauses durch andere israelische Soldaten, die nichts von ihren Vorgängern wissen, erscheinen sie als inkompetent. Und, als wäre dies nicht genug, wird mit der Zerstörung des in harter Arbeit erbauten Treibhauses der Familie durch einen Soldaten das Klischee der aus langer Weile zerstörten Olivenbäume hervorgekramt. Fehlt nur noch das Kind, welches Steine auf israelische Panzer schmeißt, doch irgendwie wird auch dieses durch den älteren Sohn mit der Handgranate bedient.

Die Wahl des Hauptdarstellers…

… überrascht nach all diesem wohl wenig. Mohamed Bakri ist nach eigenen Aussagen durch die Intifada zum Dokumentarfilmer geworden. 2002 dreht er als Regisseur den umstrittenen Dokumentarfilm „JENIN, JENIN“, der die „Besatzung“ Dschenin aus plästinensischer Sicht zeigt. Erstmals seit 15 Jahren sahen sich die israelische Zensurbehörde gezwungen einen Film zu verbieten.

Ein Schrecken mit Ende?

Glücklicherweise läuft „Private“ so schlecht an, dass er bereits nach der zweiten Woche in einem der drei Berliner Kinos – Eiszeit, Broadway und Hackesche Hoefe – welches ihn zeigte, vom Spielplan genommen wurde. Ein weiteres folgte nur eine Woche später. Bleibt zu hoffen dass diese Entwicklung anhält und er ab nächster Woche zumindest in Berlin nicht mehr gezeigt wird.

* Tobias Ebbrecht, Berliner Lektionen. Quelle: www.typoskript.net

„Unauslöschlich wie die eintätowierte Nummer auf dem Arm“ : Rezension von Ewald Hansteins „Meine hundert Leben – Erinnerungen eines deutschen Sinto“

Anna Blume / Mut gegen rechte Gewalt

Ewald Hanstein wurde 1924 in Oels bei Breslau geboren. Er überlebte Auschwitz-Birkenau, Buchenwald, Mittelbau-Dora und die Todesmärsche. Seine Familie hatte nicht soviel Glück. „Als ich in Auschwitz ankam, lebten nur noch drei Geschwister meiner Mutter. Als ich in Buchenwald ankam, hörte ich, daß alle vergast worden waren.“

Seine Erinnerungen hat Ralf Lorenzen aufgezeichnet und 2005 im Bremer Donat Verlag veröffentlicht. Im Mittelpunkt steht dabei der Leidesweg Hansteins durch die nationalsozialistischen Lager, der 1936 mit der Deportation ins „Berlin Marzahn Rastplatz“ begann. Doch auch die Zeit nach 1945 war für Sinte und Roma von Vorurteilen, Diskriminierung und Vertreibung gekennzeichnet. „Der Schrecken verschwand nach 1945 ebenso wenig aus unserem Leben wie die Nazis aus den deutschen Amtsstuben.“

Der Kampf um Entschädigung war langwierig und entwürdigend. „20 Jahre lang habe ich für eine Entschädigung von 530 Mark gekämpft.“ Absurderweise hatte Hanstein damit noch Glück, denn die meisten Anträge auf Entschädigung wurden abgelehnt. Doch Lorenzen beschränkt seine Aufzeichnungen nicht auf „die grauenhaften Nazijahre und deren bis heute reichende Folgen“, denn zu Hansteins Leben gehört mehr als nur passives Opfer zu sein. Dementsprechend beschäftigt sich der letzte Teil des Buches mit Hanstein als jemandem, dem es gelingt, anderen Menschen Mut zu machen und der sich für ihre Rechte einsetzt. In einer Rede reflektiert er: „Die Befreiung von Auschwitz hat die am Leben Gebliebenen davor bewahrt, ermordet zu werden, zu verhungern oder zu erfrieren. Doch von unseren Erfahrungen und Träumen kann uns niemand befreien. Diese sind in unseren Erinnerungen und Träumen brennende Gegenart, unauslöschlich wie die eintätowierte Nummer auf dem Arm.“

Ewald Hanstein: Meine hundert Leben – Erinnerungen eines deutschen Sinto. Aufgezeichnet von Ralf Lorenzen. Mit einem Geleitwort von Henning Scherf. Donat-Verlag Bremen, 2005. 168 Seiten, 12,80 Euro.